06/10/2025
Jom Kippur, der Versöhnungstag, markiert den Höhepunkt der Zehn Bußtage im jüdischen Kalender und gilt als der heiligste Tag des Jahres. Er wird am 10. Tischri begangen und oft als „Schabbat Schabbaton“ – der Schabbat der Schabbate – bezeichnet, was seine überragende Bedeutung unterstreicht. An diesem Tag geht es nicht nur um Fasten, sondern um eine tiefgreifende spirituelle Reinigung, die den Menschen mit Gott und seinen Mitmenschen versöhnen soll. Doch bevor die intensive Fastenzeit beginnt, gibt es ein letztes, bedeutsames Mahl, das als Vorbereitung auf diese heilige Zeit dient.

Die Bedeutung von Jom Kippur: Ein Tag der Sühne und Reflexion
Die Ursprünge von Jom Kippur sind tief in der Tora verwurzelt. Im 3. Buch Mose, Levitikus 16, 29-31, heißt es: „Und es sei euch zur ewigen Satzung: im siebenten Monat, am zehnten des Monats sollt ihr euch kasteien und keinerlei Werk verrichten, der Eingeborene und der Fremde, der unter euch weile. Denn an diesem Tag wird er euch sühnen, daß ihr rein werdet; von allen euern Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen. Eine Schabbatfeier sei er euch und ihr sollt euch kasteien, eine ewige Satzung.“ Die Phrase „ihr sollt euch kasteien“ bezieht sich hier eindeutig auf das Fasten, das am Jom Kippur praktiziert wird. Es ist ein Tag, an dem die Gläubigen dazu aufgerufen sind, sich von weltlichen Ablenkungen zu lösen und sich ganz der Reue, dem Gebet und der Introspektion zu widmen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen jüdischen Feiertagen, die oft historische Ereignisse oder landwirtschaftliche Zyklen feiern, hat Jom Kippur keinen solchen Hintergrund. Seine Bedeutung ist rein spirituell und persönlich. Es ist ein Tag, der ausschließlich die Beziehung des Menschen zu Gott und zu seinen Mitmenschen in den Mittelpunkt rückt, mit dem Ziel der Vergebung und der Neuausrichtung für das kommende Jahr. Es ist der Tag, an dem das Schicksal jedes Einzelnen für das kommende Jahr im „Buch des Lebens besiegelt“ wird, wie es in den Hohen Feiertagen heißt.
Der Vorabend: Eine Mischung aus Freude und Feierlichkeit
Der Vorabend von Jom Kippur ist eine einzigartige Mischung aus tiefer Feierlichkeit und einer gewissen festlichen Freude. Es ist ein halber Feiertag, an dem sich die Gemeinde auf den bevorstehenden Tag der Sühne vorbereitet. Dieser Tag ist traditionell geprägt von großzügigem Geben für wohltätige Zwecke. Oft wird Geld, das ursprünglich für die Kaparot-Zeremonie – eine symbolische Erinnerung an die Opfer im Tempel – vorgesehen war, an Bedürftige gespendet. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Tzedaka (Wohltätigkeit) als einen Weg zur Sühne.
Ein weiterer zentraler Aspekt des Vorabends ist das Ersuchen um Vergebung. Bevor die Sünden zwischen Mensch und Gott am Jom Kippur gesühnt werden können, ist es unerlässlich, sich mit jenen auszusöhnen, die man im Laufe des Jahres absichtlich oder unabsichtlich beleidigt oder verletzt hat. Es ist eine Zeit der direkten Aussprache und der Wiederherstellung zerbrochener Beziehungen, denn nur Sünden, die zwischen Mensch und Gott begangen wurden, können am Jom Kippur vergeben werden; Sünden zwischen Menschen erfordern die Vergebung des Mitmenschen selbst.
Die Atmosphäre in den Synagogen wird zunehmend ernster. Bereits zum Nachmittagsgottesdienst hüllen sich viele Teilnehmer in ihre Tallitot (Gebetsschals). Die Männer tragen oft einen Kittel, ein langes, weißes Gewand, das zusammen mit dem Tallit Reinheit und die Bereitschaft zur Reue symbolisiert. Auch Frauen kleiden sich häufig in Weiß, um die gleiche spirituelle Haltung auszudrücken. Diese äußere Erscheinung spiegelt die innere Bereitschaft zur Läuterung wider.
Die Seudat Mafseket: Das letzte Mahl vor dem Fasten
Ein besonders bedeutsamer Moment am Vorabend von Jom Kippur ist die sogenannte Seudat Mafseket, das letzte Mahl vor dem Fasten. Dieses Mahl ist nicht nur eine körperliche Vorbereitung auf die bevorstehende 25-stündige Enthaltsamkeit von Essen und Trinken, sondern auch eine spirituelle. Es ist ein festliches Mahl, das oft im Kreise der Familie eingenommen wird. Die Festlichkeit dieses Mahles mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, da es einem Tag der Buße vorausgeht. Doch es symbolisiert die Freude über die bevorstehende Möglichkeit der Sühne und die Hoffnung auf ein gutes, neues Jahr, das durch die Vergebung Gottes besiegelt wird. Es ist ein Mahl, das Kraft und Stärkung für die lange Nacht und den folgenden Tag des intensiven Gebets und der Reflexion geben soll.
Nach dem Mahl segnen die Eltern traditionell ihre Kinder. Dies ist ein zutiefst emotionaler Moment, in dem die Eltern ihre Wünsche für Gesundheit, Glück und ein Leben im Einklang mit den Geboten Gottes zum Ausdruck bringen. Es ist eine Übergabe von Tradition und ein Segen für die Zukunft. Auch das Entzünden einer Gedenkkerze für die Verstorbenen, die oft die gesamte Fastenzeit über brennt, gehört zu den Bräuchen dieses Abends. Diese Kerze, oft als „Ner Neshama“ (Seelenkerze) bezeichnet, erinnert an die Seelen der geliebten Menschen, die nicht mehr unter uns weilen, und verbindet die Generationen in diesem heiligen Moment.
Die Liturgie des Jom Kippur: Eine Reise durch Gebet und Bekenntnis
Die Gottesdienste an Jom Kippur sind die längsten und intensivsten des jüdischen Jahres. Sie beginnen am Abend und setzen sich den gesamten folgenden Tag fort.
Der Abendgottesdienst beginnt mit dem ergreifenden „Kol Nidre“ („Alle Gelübde“), das dreimal hintereinander gesungen wird. Es ist eine formale Auflösung aller unerfüllten Gelübde und Versprechen, die man in emotionaler Anspannung oder aus Versehen gemacht haben könnte. Diese Absolution bezieht sich jedoch ausschließlich auf solche Gelübde und Versprechen, die jemand freiwillig auf sich genommen hat und die seine Beziehung zum eigenen Gewissen und zu Gott betreffen. Weder Gelübde noch Versprechen, die einer anderen Person, einer Gemeinde oder einem Gericht gegenüber abgelegt wurden, sind darin eingeschlossen. Kol Nidre schafft eine reine Basis für die Sühne.
Ein Großteil der Liturgie des Jom Kippur besteht aus Bußgebeten, den „Slichot“. Das zentrale Sündenbekenntnis ist das „Widui“, in dem Sünden, die ein Einzelner begangen haben könnte, aufgezählt werden. Dieses Gebet wird jedoch gemeinsam für ganz Israel gesprochen, was die kollektive Verantwortung und die Einheit des Volkes betont. Es ist eine gemeinsame Bitte um Verzeihung, die die gesamte Gemeinde umfasst.
Im Morgengottesdienst findet das „Jiskor“-Gebet statt, eine feierliche Erinnerung an verstorbene Verwandte. Dieses Gebet bietet Trost und ermöglicht es den Trauernden, die Erinnerung an ihre Lieben in den heiligsten Tag des Jahres zu integrieren und durch Gebet und Tzedaka ihre Seelen zu ehren.
Der Jom Kippur-Gottesdienst schließt mit dem „Neilah“-Gebet ab, das mit großer Feierlichkeit und Macht gesprochen wird. „Neilah“ bedeutet „Schließen“, was darauf hindeutet, dass die Tore des Himmels kurz vor dem Fastenende geschlossen werden. Während dieses Gottesdienstes bleibt der Toraschrein offen, was die unmittelbare Nähe zu Gott symbolisiert. Der Tag und die Fastenzeit werden mit einem letzten, langen Schofarton beendet, der die Seelen der Gläubigen durchdringt und die endgültige Versiegelung des Schicksals für das kommende Jahr markiert.
Sünde und Vergebung im Judentum
Im Hebräischen gibt es etwa zwanzig verschiedene Wörter, die „Sünde“ bedeuten, jedes mit einem eigenen Konzept und begrenzter Anwendbarkeit. Der allgemeine rabbinische Terminus für Sünde ist „awerah“, abgeleitet von der Wurzel „awar“ – „vorbeigehen“. Dies wird als ein Verlust der göttlichen Gunst interpretiert, ein Abweichen vom rechten Pfad. Juden glauben, dass Sünde oft durch den bösen Trieb („Jetzer HaRa“) verursacht wird, eine Kraft, die uns dazu treibt, den Instinkten ohne Rücksicht auf die Konsequenzen nachzugeben.
Doch das Judentum bietet auch einen Weg zur Umkehr. Gott selbst sagte (Kid. 30b): „Meine Kinder? Ich schuf den bösen Trieb, aber ich schuf die Tora als sein Gegengift: Wenn ihr Tora lernt, werdet ihr euch nicht in seine Hand begeben.“ Rabbi Ischmael lehrte (Kid. 30b) ebenfalls: „Mein Sohn, wenn dich dieser widerwärtige Lump (der böse Trieb) angreift, führe ihn ins Lehrhaus. Wenn er aus Stein ist, wird er sich auflösen und wenn er aus Eisen ist, wird er in seine Bestandteile zerfallen.“ Diese Lehren betonen die Macht des Lernens und der Tora als Mittel zur Überwindung negativer Neigungen.
Es ist entscheidend zu verstehen, dass am Jom Kippur nur Sünden zwischen Mensch und Gott vergeben werden können. Sünden, die man gegen einen Mitmenschen begangen hat, erfordern, dass man aktiv um Vergebung bei dieser Person bittet, bevor man sich Gott zuwenden kann. Erst wenn der Mensch seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen in Ordnung gebracht hat, kann er hoffen, dass auch seine Gebete und seine Reue von Gott angenommen werden.
Die Macht der Wahlfreiheit
Ein fundamentales Prinzip des Judentums ist die Wahlfreiheit. Schon in der ersten Geschichte der Bibel erhalten Adam und Eva die Möglichkeit, Gottes Gebot anzunehmen oder abzulehnen. Der große mittelalterliche Gelehrte Maimonides schrieb (Jad, Teschuwa 5): „Jeder Mensch hat die Möglichkeit, ein Gerechter zu werden wie Moses, unser Lehrer, oder böse wie Jeroboam, gescheit oder dumm, freundlich oder grausam, geizig oder großzügig …“ Dies widerspricht einem volkstümlichen jiddischen Sprichwort, das alles im Leben als „beschert“ oder vorbestimmt betrachtet. Das Judentum lehrt uns, dass wir fähig sind, unser Leben zu leiten, den Pfad der Rechtschaffenheit zu wählen oder sein Gegenteil, die Sünde. Diese Erkenntnis gibt dem Einzelnen die Verantwortung und die Möglichkeit zur Teschuwa (Reue) und zur Veränderung.
Gebet, Buße und Wohltätigkeit: Der Weg zur Umkehr
Obwohl es heißt, dass zu Rosch Haschana unser Schicksal eingeschrieben und am Jom Kippur besiegelt wird – wer leben und wer sterben wird, wer das volle Maß seiner Tage leben und wer vor der Zeit sterben wird – lehren uns die Rabbinen, dass dies eher eine Meditation als ein Gebet ist. Es soll uns die inspirierende Ermahnung des Jom Kippur verstehen helfen: „Aber Buße, Gebet und Wohltätigkeit wenden das strenge Urteil ab!“ Diese drei Säulen – Teschuwa (Reue/Umkehr), Tefillah (Gebet) und Tzedaka (Wohltätigkeit) – sind die mächtigsten Werkzeuge, die dem Menschen zur Verfügung stehen, um sein Schicksal zu beeinflussen und Vergebung zu erlangen. Sie ermöglichen es uns, den Weg der Reue zu wählen, selbst bis zu unserer letzten Minute auf Erden, und somit eine Chance auf göttliche Sühne zu erhalten.
Jom Kippur in Israel: Eine besondere Atmosphäre
In Israel erhält Jom Kippur eine zusätzliche, noch tiefere spirituelle Dimension. Das gesamte Land kommt zum Stillstand. Vor allem in Jerusalem sind keine Autos auf den Straßen zu sehen; selbst nicht-religiöse Israelis respektieren die Heiligkeit dieses Tages. Die Stille, die das Land an diesem Tag umhüllt, ist fast greifbar und schafft eine einzigartige Atmosphäre der Besinnung und des gemeinsamen Gebets. Wenn sich die Nacht über diese lange Fasten- und Gebetsperiode senkt, füllen sich die Synagogen bis auf den letzten Platz. Viele Gläubige strömen auch zur Westmauer in Jerusalem, um dort die letzten Momente des heiligen Tages zu verbringen. Der letzte Schofarton, der die Dunkelheit zerreißt, ist ein Echo der Worte Jesajas an die Exilierten (Jesaja 27,13): „An jenem Tage wird man in die große Posaune stoßen, dann werden kommen, die im Land Assur sich verloren und die nach Ägypten versprengt sind, und sie werden den Ewigen anbeten auf dem heiligen Berg in Jerusalem.“ Es ist ein Ruf zur Heimkehr, zur Spiritualität und zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Häufig gestellte Fragen zu Jom Kippur und dem Fasten
Was ist der Hauptzweck des Fastens an Jom Kippur?
Der Hauptzweck des Fastens an Jom Kippur ist die Kasteiung des Körpers, um den Geist zu befreien und sich vollständig auf Reue, Gebet und die Beziehung zu Gott zu konzentrieren. Es ist eine Form der Selbstverleugnung, die zur spirituellen Reinigung führt.
Wer ist vom Fasten an Jom Kippur ausgenommen?
Personen, deren Gesundheit durch das Fasten gefährdet wäre, sind vom Fasten ausgenommen. Dazu gehören Kranke, schwangere Frauen, stillende Mütter und kleine Kinder. Im Judentum steht die Bewahrung des Lebens über den religiösen Geboten.
Was ist der Unterschied zwischen Sünden gegen Gott und Sünden gegen den Menschen?
Sünden gegen Gott sind Verstöße gegen göttliche Gebote, die die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer betreffen (z.B. Verletzung des Schabbats, Essen von Verbotenem). Sünden gegen den Menschen sind Verstöße gegen die Rechte oder das Wohlergehen eines anderen Menschen (z.B. Diebstahl, Verleumdung, Verletzung). Nur Sünden gegen Gott können am Jom Kippur durch Reue und Gebet gesühnt werden; Sünden gegen den Menschen erfordern die Vergebung der beleidigten Person selbst.
Was passiert, wenn man sich vor Jom Kippur nicht mit allen ausgesöhnt hat?
Wenn man es nicht schafft, sich mit allen ausgesöhnt zu haben, ist die Sühne für die Sünden zwischen Mensch und Mensch nicht vollständig. Das Judentum lehrt, dass man sich aufrichtig bemühen muss, Vergebung zu erbitten und den Schaden wiedergutzumachen. Wenn die andere Person sich weigert, zu vergeben, oder unerreichbar ist, hat man seine Pflicht getan und kann sich an Gott wenden.
Warum wird am Ende von Jom Kippur das Schofar geblasen?
Das Schofar wird am Ende von Jom Kippur geblasen, um das Fasten und die Bußzeit feierlich zu beenden. Es symbolisiert das Schließen der Tore des Himmels, die während der Gebetszeit offen standen, und markiert den Übergang von der Zeit der Urteilsfindung zur Versiegelung des Schicksals für das kommsende Jahr. Es ist ein Ruf der Hoffnung und ein Zeichen des Sieges über den bösen Trieb.
Vergleich: Jom Kippur und andere jüdische Feiertage
Jom Kippur nimmt eine einzigartige Stellung im jüdischen Kalender ein. Während die meisten jüdischen Feiertage eine historische oder landwirtschaftliche Dimension haben, ist Jom Kippur rein spirituell und persönlich ausgerichtet. Die folgende Tabelle verdeutlicht diese Unterschiede:
| Merkmal | Jom Kippur | Andere jüdische Feiertage (z.B. Pessach, Sukkot) |
|---|---|---|
| Hintergrund | Rein religiös und spirituell; Fokus auf individuelle und kollektive Sühne und Beziehung zu Gott. | Historisch (z.B. Auszug aus Ägypten an Pessach) oder landwirtschaftlich (z.B. Erntedank an Sukkot). |
| Fokus | Buße, Reue (Teschuwa), Vergebung, Selbstreflexion, Fasten. | Freude, Feier, Erinnerung an historische Ereignisse, Gemeinschaft, Dankbarkeit. |
| Hauptpraktik | Fasten (von Essen, Trinken, Waschen, Salben, ehelichen Beziehungen), intensive Gebete, Bekenntnisse. | Festmahle, besondere Rituale (z.B. Seder an Pessach, Laubhütte an Sukkot), Feiern. |
| Atmosphäre | Feierlich, ernst, besinnlich, ruhig. | Fröhlich, lebhaft, gemeinschaftlich. |
| Beziehung | Primär Mensch zu Gott und Mensch zu Mensch. | Primär Nation zu Gott und Gemeinschaftserlebnisse. |
Diese Besonderheit macht Jom Kippur zu einem der tiefgreifendsten und persönlichsten Tage im judentum, einem Tag, an dem jeder Einzelne die Möglichkeit erhält, sich neu auszurichten und mit reinem Herzen in das kommende Jahr zu starten.
Wenn du andere Artikel ähnlich wie Jom Kippur: Das letzte Mahl vor der Sühne kennenlernen möchtest, kannst du die Kategorie Religion besuchen.
