Was ist der jüdische Tempel?

Der Tempel: Zwischen Gebet und Kommerz

24/10/2025

Rating: 4.89 (8965 votes)

Die Bilder sind verstörend und befremdlich. Wir stellen uns eine Szene vor, wie sie in alten Jesusfilmen oder den Passionsspielen von Oberammergau eindrücklich dargestellt wird: Jesus, der im Vorhof des Tempels wutentbrannt Tische umstößt, Vogelkäfige umwirft und Händler, Geldwechsler und Steuereintreiber hinausjagt. Dieser Anblick passt auf den ersten Blick so gar nicht zu dem Bild des mitfühlenden und barmherzigen Messias, das wir oft von ihm haben. Doch um diesen Ausbruch zu verstehen, müssen wir tiefer in die damaligen Verhältnisse des Tempels eintauchen und die komplexen Zusammenhänge beleuchten, die Jesus zu solch drastischen Maßnahmen bewogen.

Wie reagiert Jesus auf den Missbrauch des Tempels?
Der Tempel wird missbraucht, und Jesus reagiert zurecht auf diesen Missbrauch. Selbst die hartherzigen jüdischen Glaubensführer kriegen aber mit, dass sich daneben aber noch mehr abspielt. Sie erkennen, dass Jesus einen Anspruch geltend macht. Er beansprucht zur Abschaffung des Frevels autorisiert zu sein, der im Tempel begangen wird.

Der jüdische Tempel, insbesondere der von Herodes prachtvoll ausgebaute Zweite Tempel in Jerusalem, war weit mehr als nur ein religiöses Zentrum. Zur Zeit Jesu war er ein monumentales Bauwerk, dessen Pracht selbst von den Römern anerkannt wurde. Er thronte majestätisch auf dem Tempelberg und dominierte nicht nur das Panorama Jerusalems, sondern auch das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben der gesamten Region. Tausende von Menschen arbeiteten in diesem Komplex – Priester, Leviten, Beamte, Aufsichtspersonal und eine Vielzahl von Händlern. Der Tempel war zu einem gigantischen Wirtschaftsunternehmen geworden, dessen Einnahmen nicht nur den Unterhalt sicherten, sondern auch Reichtum für viele Beteiligte generierten.

Inhaltsverzeichnis

Der Zweite Tempel: Ein Zentrum der Welt, aber nicht nur des Gebets

Herodes der Große hatte den Tempel und das gesamte Plateau, auf dem er stand, zwischen 20 v. Chr. und 64 n. Chr. zu einer beeindruckenden Anlage ausgebaut. Die Größe und der Glanz des Tempels waren legendär. Er bestand aus verschiedenen Höfen, die sukzessive nur bestimmten Personengruppen zugänglich waren: der Vorhof der Heiden, der Vorhof der Frauen, der Vorhof Israels und der Priesterhof, der zum Allerheiligsten führte. Während die inneren Höfe der reinen Anbetung und den rituellen Handlungen vorbehalten waren, diente der äußere Vorhof der Heiden als Marktplatz und Handelszentrum. Dieser Vorhof, der eigentlich allen Völkern offenstehen sollte, um Gott zu begegnen und zu beten, wurde zum Schauplatz intensiver kommerzieller Aktivitäten.

Religiöse Pilger aus aller Welt strömten zu den großen jüdischen Festen nach Jerusalem, insbesondere zu Passah, dem Wochenfest und dem Laubhüttenfest. Ihre Pilgerreise war eine tiefe spirituelle Erfahrung, die oft mit Opfern und Spenden verbunden war. Doch genau hier setzten die wirtschaftlichen Mechanismen ein, die Jesus so sehr empörten. Pilger mussten Opfertiere kaufen – Tauben für die Armen, Schafe oder Rinder für die Wohlhabenderen. Diese Tiere mussten jedoch makellos und von hoher Qualität sein, was oft nur Tiere zuließ, die direkt vor Ort im Tempelbereich verkauft wurden. Die Preise für diese Tiere waren oft überhöht, da die Händler ein Monopol besaßen.

Ein weiteres großes Problem war die Währung. Die jährliche Tempelsteuer von einer halben Schekel konnte nur in einer bestimmten jüdischen Währung bezahlt werden, nicht mit römischen oder anderen heidnischen Münzen, die oft das Bild des Kaisers trugen und als Götzenbilder galten. Dies führte zu einer Notwendigkeit des Geldwechsels, und die Geldwechsler im Tempel erhoben dafür horrende Gebühren. Es war ein System, das die frommen Pilger, insbesondere die Armen, auf ihrem Weg zu Gott ausbeutete. Eine Pilgerfahrt, die Unterkunft und Essen in Jerusalem erforderte, war für viele ohnehin schon ein teures Unterfangen. Die zusätzlichen Kosten für Tieropfer, Geldwechselgebühren, Konzessionsgebühren der Händler an die Tempelverwaltung und weitere Spenden machten es zu einem Geschäft, an dem viele verdienten und damit ihr Auskommen sicherten.

Ein Haus des Gebets oder eine Räuberhöhle?

Das eigentliche Problem war nicht das Geld an sich, denn der Tempel brauchte Einnahmen für seinen Betrieb und seine Priesterschaft. Das Problem war die Ausbeutung und die Verschiebung des Fokus. Nicht mehr die Wallfahrt als solche, die Begegnung mit Gott, die Feier des Festtages oder die Neuausrichtung auf ein sinnstiftendes Leben standen im Mittelpunkt der religiösen Abläufe im Tempel. Vielmehr ging es insbesondere seitens der Verantwortlichen um die Finanztransaktionen zur Erhaltung eines wirtschaftlichen Zentrums. Der heilige Raum, der für Gebet und Besinnung gedacht war, war zu einem lauten, überfüllten Marktplatz geworden. Jesus sah, wie der Glaube für den Profit missbraucht wurde und der eigentliche Sinn des Tempels – eine Stätte der Gottesbegegnung für alle Völker – verloren ging.

Genau das war es, auf das Jesus so heftig reagierte. Seine Worte „Mein Haus soll ein Bethaus heißen; ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht“ (Matthäus 21,13) sind eine direkte Anspielung auf den Propheten Jeremia (Jeremia 7,11). Es war eine theologische und moralische Anklage zugleich. Jesus sah, dass die spirituelle Integrität des Tempels durch den Kommerz untergraben wurde. Er handelte nicht aus persönlicher Wut, sondern aus einem tiefen, prophetischen Zorn über die Entweihung eines heiligen Ortes und die Korruption des religiösen Systems.

Jesu Botschaft: Heilung, Inklusion und ein Aufruf zur Umkehr

Als die Händler vertrieben waren, kehrte eine beinahe heilige Stille ein. Jesus stand nun im Mittelpunkt. Die Menschen schauten gespannt auf ihn. Was würde er nun tun? Matthäus berichtet, wie Lahme und Blinde im Tempel geheilt wurden. Menschen am Rande der Gesellschaft, die kein Geld hatten, um auch nur kleine Opfertiere kaufen zu können, wurden plötzlich wichtig im Tempelgeschehen. Dies war ein radikaler Akt der Inklusion und ein Zeichen dafür, dass das Haus Gottes für alle da sein sollte, insbesondere für die Schwächsten und Ausgeschlossenen.

Dann preisen Kinder Jesus als den gekommenen Messias. Das war des Guten zu viel für die Hohenpriester und Schriftgelehrten. Sie empörten sich zutiefst, denn sie erkannten die Gefahr, die von Jesus ausging. Ihr fein ziseliertes religiöses Wirtschaftssystem drohte aufgrund der Aktivitäten Jesu ins Wanken zu geraten. Endgültig erklärten sie ihn zu ihrem Todfeind, da er ihre Autorität und ihre Einkommensquellen bedrohte. Doch einigen wenigen gingen die Augen auf. Die Evangelisten berichten von Nikodemus oder von Josef von Arimathäa, die allmählich verstanden, dass dieser Jesus tatsächlich das mitfühlende, barmherzige und liebende Angesicht Gottes war. Vielleicht öffneten sich ihnen die Augen in dem Augenblick, als Jesus mit der Vertreibung der Händler im Tempel die völlig verfehlte Religiosität aufdeckte. Geahnt hatten sie wahrscheinlich schon lange, dass der Tempelbetrieb eine falsche Richtung eingeschlagen hatte.

Die Gratwanderung: Glaube, Geld und Kirche heute

Mit Religion lassen sich gute Geschäfte machen. Das war nicht nur in biblischen Zeiten eine Versuchung für religiöse Führer. Während der gesamten Kirchengeschichte hatten auch die Kirchen ihre Probleme mit dem lieben Geld. Ein besonders eklatantes Beispiel ist der Werbespruch Johann Tetzels zum Verkauf der Ablassbriefe zur Zeit Martin Luthers: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“ Dieser Handel sollte notwendige Einnahmen für Kirchenbauten sichern. Die Frage, die sich hier stellt, ist zeitlos: Heiligt der Zweck die Mittel? Braucht eine christliche Kirche nicht auch eine ordentliche Verwaltung, die wiederum finanziert werden muss? Das darf nicht in Abrede gestellt werden. Kirchen und Gemeinschaften sollten ihre hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch anständig entlohnen. Und doch bleibt es eine Gratwanderung.

Was ist das richtige Maß für die Generierung von kirchlichen Geldern, gerade in unserer Zeit der rasanten Säkularisierung insbesondere in Westeuropa? Haben sich Kirchensteuern und Staatsleistungen zugunsten der großen Volkskirchen nicht überlebt, wenn in Deutschland eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung diesen nicht mehr angehört? Dies ist eine sensible und oft kontrovers diskutierte Frage. Die Geschichte des Tempels und Jesu Reaktion darauf dient als ewige Mahnung: Die Reinheit des Glaubens und die unbedingte Hinwendung zu Gott dürfen niemals dem Kommerz oder der bloßen Erhaltung einer Institution geopfert werden.

Der zerschlissene Rock des Franz von Assisi, den man noch heute sehen kann, ist ein beredtes Zeugnis für eine andere Art von Christentum. Die Schlichtheit des in allen christlichen Konfessionen bewunderten Mönchs aus Umbrien ist beschämend für eine bequem gewordene Amtskirche. Damals wie heute ist seine Einfachheit eine Provokation. Und doch hat er durch sie den Boden für die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft erneuert. Wäre das ein Rezept für gelingendes Wachstum unserer Kirchen? Zunächst Ballast abzuwerfen, alte Zöpfe abzuschneiden und den Kurs neu auf Jesus Christus auszurichten?

Vergleich: Tempel vor und nach Jesu Reinigung

AspektTempel vor Jesu ReinigungTempel nach Jesu Vision
HauptfunktionWirtschaftszentrum, MarktplatzBethaus, Ort der Gottesbegegnung
AtmosphäreLärm, Geschäftigkeit, GierStille, Gebet, Heilung
Behandlung der PilgerAusbeutung, hohe GebührenInklusion, Hilfe für die Bedürftigen
Fokus der VerantwortlichenFinanzielle Einnahmen, MachtSpirituelle Reinheit, Gottesdienst
Sichtbarkeit der ArmenAusgeschlossen, benachteiligtIm Mittelpunkt, geheilt, anerkannt

Häufig gestellte Fragen (FAQ) zum jüdischen Tempel und Jesu Handeln

Was war der jüdische Tempel zur Zeit Jesu?
Der jüdische Tempel in Jerusalem war das zentrale religiöse Heiligtum des Judentums. Er war ein prächtiges Bauwerk, das von König Herodes massiv ausgebaut wurde und nicht nur ein Ort der Anbetung, sondern auch ein bedeutendes wirtschaftliches und gesellschaftliches Zentrum war.
Warum war Jesus wütend im Tempel?
Jesus war wütend, weil der Vorhof des Tempels, der eigentlich ein Ort des Gebets für alle Völker sein sollte, zu einem lauten Marktplatz mit Geldwechslern und Tierverkäufern geworden war. Er sah darin eine Entweihung des heiligen Ortes und eine Ausbeutung der frommen Pilger, die für ihre Opfer und Steuern überhöhte Gebühren zahlen mussten.
Was bedeuten Jesu Worte „Mein Haus soll ein Bethaus heißen; ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus“?
Diese Worte zitieren den Propheten Jeremia und drücken Jesu tiefe Enttäuschung aus. Sie bedeuten, dass der Tempel seinen eigentlichen Zweck als Ort der Gottesbegegnung und des Gebets verloren hatte und stattdessen zu einem Ort des unehrlichen Geschäfts und der Gier geworden war.
Gab es nur einen jüdischen Tempel?
Historisch gab es zwei Tempel in Jerusalem. Der Erste Tempel (Salomos Tempel) wurde 586 v. Chr. zerstört. Der Zweite Tempel wurde nach dem babylonischen Exil wieder aufgebaut und von Herodes dem Großen erweitert. Er stand bis zu seiner Zerstörung durch die Römer im Jahr 70 n. Chr.
Was können wir aus Jesu Handeln im Tempel für uns heute lernen?
Jesu Handeln ist eine Mahnung, die Reinheit des Glaubens über materielle Interessen zu stellen. Es fordert uns auf, kritisch zu hinterfragen, ob unsere religiösen Praktiken und Institutionen wirklich dem Geist der Nächstenliebe und der Gottesbegegnung dienen oder ob sie von Kommerz, Bürokratie oder Machtinteressen dominiert werden. Es ist ein Aufruf zur Authentizität und zur Umkehr zu den ursprünglichen Werten des Glaubens.

Liebe Leserinnen und Leser, lassen Sie uns diesen biblischen Text zum Anlass nehmen, auch uns selbst kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dinge zu erkennen, die womöglich falsch laufen und den liebenden Gott bitten, uns die Hilfe für eine Neuausrichtung zu ihm zu schenken. Es geht darum, Ballast abzuwerfen und den Fokus wieder auf das Wesentliche zu richten: die bedingungslose Liebe Gottes und die Begegnung mit ihm im Herzen eines jeden Menschen.

Wenn du andere Artikel ähnlich wie Der Tempel: Zwischen Gebet und Kommerz kennenlernen möchtest, kannst du die Kategorie Religion besuchen.

Go up