02/09/2025
Das Gebet ist seit Jahrtausenden ein zentraler Bestandteil menschlicher Spiritualität. Doch wie wirkt es sich nicht nur auf unser bewusstes Denken, sondern auch auf die verborgenen Tiefen unseres Seins, unser Unterbewusstsein, aus? Eine der faszinierendsten und tiefgründigsten Gebetspraktiken, die diese Frage auf einzigartige Weise beantwortet, ist das sogenannte Jesusgebet, auch bekannt als immerwährendes Herzensgebet. Diese aus dem östlichen Christentum stammende Praxis ist weit mehr als nur eine Abfolge von Worten; sie ist ein Weg zur tiefen Verinnerlichung und zur Transformation des gesamten Menschen.

Das Jesusgebet ist eine repetitive Gebetsform, die sich auf die Anrufung des Namens Jesu konzentriert. Es gibt keinen festen, einheitlichen Gebetstext, aber die Essenz bleibt immer die gleiche: die Anrufung des Namens Jesu, oft verbunden mit einer Bitte um Erbarmen. Häufige Formulierungen sind:
- „Herr Jesus Christus“
- „Jesus Christus“
- „Jesus“
- „Christus Jesus“
Nach der Anrufung kann eine Erbarmungsbitte angeschlossen werden, wie zum Beispiel:
- „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“
- „Herr Jesus Christus, (du) Sohn Gottes, erbarme dich meiner“
- „Herr Jesus Christus, (du) Sohn Gottes, steh’ mir bei“
- „Heiligstes Herz Jesu, sei meine Rettung“
Insbesondere auf dem Berg Athos pflegen die Einsiedler das sogenannte kleine Jesusgebet, das oft in seiner kürzesten Form verwendet wird.
Die spirituelle Wirkung auf das Unterbewusstsein
Die zentrale Frage, wie das Gebet das Unterbewusstsein beeinflusst, findet im Jesusgebet eine eindrucksvolle Antwort. Durch die ständige Wiederholung und die tiefe Konzentration auf die Gebetsworte wird das Gebet allmählich aus dem bewussten Denken in die tieferen Schichten des Geistes verlagert. Es wird zu einem Teil des unbewussten Flusses von Gedanken und Gefühlen, der unser Leben prägt. Dies ist der Punkt, an dem das Gebet seine größte transformative Kraft entfaltet.
Wenn das Jesusgebet im Rhythmus von Atmung und Herzschlag verinnerlicht wird, geschieht etwas Besonderes: Es steigt, oft überraschend, aus dem Unterbewusstsein auf und wird zu einer konstanten, inneren Melodie, die unabhängig vom bewussten Willen weiterklingt. Man hört sich plötzlich innerlich beten, ohne das Gebet bewusst „angeschaltet“ zu haben. Dieser Zustand, in dem sich das Jesusgebet verselbstständigt hat, ist ein Zeichen dafür, dass es tief in die Psyche eingedrungen ist und dort seine reinigende und ordnende Wirkung entfaltet.
Die Tradition der Kirchenväter und die Praxis
Die Praxis des Jesusgebets basiert auf den Grundlagen, die bereits von den Kirchenvätern gelegt wurden. Es geht darum, sich zu bemühen, rein und ununterbrochen betend den Atem durch die Nase ins Herzinnere einzuführen und sich dabei einzig auf die Worte des Gebetes zu konzentrieren, sie zu meditieren und im Denken zu umkreisen. Diese bewusste Ausrichtung des Geistes auf die Gebetsworte ist der erste Schritt zur Verinnerlichung.
Der dreistufige Weg zur Verinnerlichung
Traditionell, nach dem Vorbild des russischen Pilgers, erfolgt die Einübung des Jesusgebets in drei Schritten. Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder dieser Schritte bei den meisten Menschen mehrere Jahre dauern kann und Geduld sowie Ausdauer erfordert:
- Häufiges mündliches Rezitieren: Dies ist der Beginn der Reise.
- Innerliches Beten: Das Gebet wird still im Herzen gesprochen.
- Selbstständiges Beten: Das Gebet wird im Rhythmus von Atmung und Herzschlag verinnerlicht und läuft automatisch ab.
1. Mündliches Rezitieren: Der Grundstein der Verinnerlichung
Im ersten Schritt wird der Gebetstext sehr häufig laut gesprochen oder zumindest mit den Lippen geformt. Zur Einübung sollte eine aufrechte Sitzposition, beispielsweise auf einer Meditationsbank oder einem Stuhl, eingenommen werden. Um Einseitigkeiten und Verfälschungen der Übungsidee zu vermeiden, ist es sinnvoll, einen spirituellen Ratgeber hinzuzuziehen, der bereits Erfahrung mit dieser Praxis hat. Dies muss nicht unbedingt ein Priester oder Mönch sein.
Das Gebet wird zunächst dreitausendmal am Tag gesprochen – abgezählt an einem Rosenkranz oder, noch besser, an einer Knotenschnur, da diese kein störendes Klicken verursacht. Danach wird die Zahl auf sechstausendmal, dann auf zwölftausendmal und schließlich sooft wie möglich gesteigert. Dieses bewusste, häufige Sprechen des Gebetes in der ersten Phase dient der Verinnerlichung. Man kann auch mit einer kleineren Zahl beginnen und sollte anfänglich nicht zu schnell steigern, da sich sonst beim Übenden leicht extremer Überdruss und geistige Leere einstellen können, was zum Abbruch der Übung führen kann. Einige Menschen haben dadurch sogar ihren ganzen Glauben verloren. Es ist auch wichtig, andere Aspekte des Lebens, wie Arbeit und tätige Nächstenliebe, nicht wegen der Übungen zu vernachlässigen.
2. Inneres Gebet: Der Übergang zur Stille
Im zweiten Schritt wird das Gebet zum inneren Gebet. Nun kann bewusst auf die Atmung beim Gebet geachtet werden. Beispielsweise kann beim Einatmen „Herr Jesus Christus“ und beim Ausatmen „Erbarme dich meiner“ gebetet werden. Dieser Schritt vertieft die Konzentration und beginnt, das Gebet stärker mit den körperlichen Rhythmen zu verbinden.
3. Beten im Rhythmus von Atmung und Herzschlag: Die Vollendung der Verinnerlichung
Danach kann der Rhythmus des Herzschlags in das Beten einbezogen werden. Beim ersten Herzschlag wird „Herr“, beim zweiten „Jesus“, beim dritten „Christus“ usw. gebetet. Die Koordination von Atmung und Herzschlag sollte behutsam und am besten unter Anleitung und Segnung eines erfahrenen geistlichen Begleiters geschehen. Große Lehrer des Jesusgebets, wie Bischof Theophan der Klausner, warnen allerdings davor, das Jesusgebet ohne spirituelle Anleitung eines erfahrenen geistlichen Vaters mit Herzschlag und Atmung zu verbinden. Die Erfahrung habe gezeigt, dass dies bei manchen Übenden zu schweren gesundheitlichen Störungen führen kann.
In der dritten Phase schließlich ist das Gebet so sehr verinnerlicht, dass es gleichsam automatisch mit jedem Atemzug oder Herzschlag gebetet wird. Nach langer Übung kommt es aus dem Unterbewusstsein hoch, und anfangs ist man erstaunt, da man sich plötzlich innerlich beten hört, ohne das Gebet willentlich „angeschaltet“ zu haben. Das Jesusgebet hat sich verselbstständigt und ist zu einem inneren Gebet des Herzens geworden.
Moderne Formen der Einübung und ihre Lehrer
Entscheidend für die Einübung ist nicht die Zahl der Gebete, sondern die Regelmäßigkeit des Betens. Bischof Theophan der Klausner empfiehlt Anfängern, dreimal täglich dreißig Gebete zu sprechen und diese Regel streng einzuhalten. Je nach Bedürfnis kann die Zahl dann auch erhöht werden. Von einer Verbindung von Atem und Herzschlag ohne Anleitung durch einen erfahrenen geistlichen Vater rät er dringend ab. Bischof Theophan ist für heutige Lehrer des Jesusgebets wie Emmanuel Jungclaussen oder Bischof Kallistos Ware von großer Bedeutung.
Moderne Lehrer des Jesusgebets wie Franz Jalics, Emmanuel Jungclaussen oder Maschwitz raten von der oben beschriebenen Zählmethode ab. Franz Jalics empfiehlt einen sanften und sehr soliden Weg. Zuerst führt er zur Wahrnehmung der Natur, um die Aufmerksamkeit auf das Göttliche zu erwecken. Anschließend führt er in die Wahrnehmung des Atems und der Hände, um das Jesusgebet körperlich zu unterstützen. Als Gebetswort dient ihm der Name „Jesus Christus“, wobei „Jesus“ mit dem Ausatmen und „Christus“ mit dem Einatmen verbunden wird.
Im Seelsorgekonzept Mental-Tuning Point, das die lutherische Theologin Sabine Bobert entwickelt hat, steht das Jesusgebet im Mittelpunkt eines der drei zentralen Übungsfelder, nämlich der Gedankenübung.
Vergleich: Traditionelle vs. Moderne Einübungsansätze
| Merkmal | Traditionelle Einübung (z.B. Theophan) | Moderne Ansätze (z.B. Jalics) |
|---|---|---|
| Zählmethode | Sehr wichtig, hohe Zahlen (3000, 6000, 12000) | Abgeraten, Fokus auf Regelmäßigkeit statt Zahl |
| Atem- & Herzschlagintegration | Wird angestrebt, aber nur mit strenger geistlicher Anleitung | Behutsam, oft durch Körperwahrnehmung (Atem, Hände) unterstützt, mit Anleitung |
| Fokus | Verinnerlichung durch quantitative Wiederholung und Konzentration | Achtsamkeit, Wahrnehmung von Natur und Körper, sanfte Integration |
| Risiken ohne Anleitung | Hohes Risiko von Überdruss, geistiger Leere, gesundheitlichen Störungen | Geringeres Risiko, da sanftere Methoden bevorzugt werden, dennoch Anleitung empfohlen |
Verbreitung und historische Bedeutung
Durch seine Entstehung im Osten ist das Jesusgebet in der Orthodoxie bzw. den Kirchen des byzantinischen Ritus am weitesten verbreitet. Es ist dort sogar stärker im Volk verwurzelt als der Rosenkranz bei den Gläubigen des lateinischen Ritus, dem es als repetitive Gebetsform entspricht.
Im deutschen Sprachraum fand das Jesusgebet in jüngster Zeit vor allem durch die Publikationen und Exerzitienkurse des Jesuiten Franz Jalics und des Benediktiners Emmanuel Jungclaussen großen Anklang bei den Gläubigen. Beide verfassten Standardwerke zum Jesusgebet. Ähnliches gilt für Peter Dyckhoff, der mit dem Ruhegebet nach Johannes Cassian eine Vorform des Jesusgebets praktiziert und lehrt.
In Russland ist es eine in der Bevölkerung sehr populäre Gebetsform, seit dort das Buch „Aufrichtige Erzählungen des russischen Pilgers“ erschienen ist. Obwohl dieses Buch eher von der wohlhabenden Bevölkerung als von normalen Gläubigen gelesen wurde, fand das Jesusgebet daher sehr viele Anhänger, weil die Geistlichkeit den Gläubigen diese Gebetsform vermittelt hat. Hinzu kommt der Umstand, dass es der orthodoxen Lehre entspricht, dass man eine gewisse Anzahl von Jesusgebeten beten kann, wenn man nicht in der Lage ist, an der Liturgie teilzunehmen.
Gesundheitliche und psychologische Aspekte
Die positiven Auswirkungen des Gebets beschränken sich nicht nur auf die spirituelle Ebene. Das British Medical Journal berichtete von einer Studie der Universität Pavia, bei der herausgefunden wurde, dass sich die Einübung eines Mantras positiv auf das Herz-Kreislauf-System auswirkt. Durch den gleichbleibenden Gebetsrhythmus reduziert sich die Atemfrequenz auf etwa sechs Atmungen pro Minute, was zur Beruhigung des Nervensystems beiträgt. Konzentration und innere Ruhe werden dadurch maßgeblich gefördert.
Der Präventivmediziner Gerd Schnack hat gemeinsam mit dem Musikpädagogen Hermann Rauhe das sogenannte repetitive Meditationstraining (RMT) entwickelt und sich hierbei am Konzept wiederholender Gebetsformeln orientiert, wozu auch das Jesusgebet zählt. Schnack und Rauhe schreiben: „Fünf Minuten RMT haben einen stärkeren Wiederherstellungseffekt auf die körperliche Fitness als eine Stunde Erholung ohne RMT.“ Zur Entspannung für den Körper komme auch eine völlig neue Kreativität für den Geist. Diese Erkenntnisse unterstreichen die ganzheitliche Wirkung des Jesusgebets, das nicht nur die Seele, sondern auch den Körper und den Geist positiv beeinflusst.
In religionsvergleichender Sicht gehört das Jesusgebet materiell zum Typus des Namensgebets und formal zu den repetitiven Gebetsformen. Die Frage, ob das Jesusgebet (als Wortlaut) ein Mantra darstellt, kann man unterschiedlich beantworten; in der Praxis ist das Jesusgebet ein „mantrisches“ Gebet. In der Ausprägung, wie sie Franz Jalics lehrt, kann es auch als Achtsamkeitsmeditation verstanden werden, die den Übenden in den gegenwärtigen Moment und die Wahrnehmung des Körpers und der Umgebung führt.
Häufig gestellte Fragen zum Jesusgebet
Hier finden Sie Antworten auf einige der häufigsten Fragen zum Jesusgebet:
- Muss ich ein Priester oder Mönch sein, um das Jesusgebet zu praktizieren?
Nein, das Jesusgebet ist für jeden Gläubigen zugänglich. Es wird jedoch empfohlen, bei der Einübung einen erfahrenen spirituellen Ratgeber zur Seite zu haben, insbesondere bei fortgeschrittenen Phasen. - Wie lange dauert es, bis das Gebet selbstständig wird?
Die traditionellen Lehren besagen, dass jeder der drei Schritte mehrere Jahre dauern kann. Es ist ein lebenslanger Weg der Verinnerlichung, dessen Dauer stark individuell variiert. - Ist das Jesusgebet ohne spirituelle Anleitung gefährlich?
Besonders die Verbindung des Gebets mit dem Herzschlag ohne erfahrene Anleitung wird von vielen Lehrern als potenziell riskant angesehen und kann zu gesundheitlichen oder psychischen Störungen führen. Ein sanfter Ansatz und Anleitung sind hier ratsam. - Kann das Jesusgebet meine Gesundheit verbessern?
Studien deuten darauf hin, dass die repetitive Natur des Gebets positive Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System haben und Konzentration sowie innere Ruhe fördern kann. Es kann als Form der repetitiven Meditation zur Entspannung und Regeneration beitragen. - Ist das Jesusgebet ein Mantra?
Obwohl es sich um ein Gebet handelt, das den Namen Jesu anruft, hat es in seiner repetitiven Praxis „mantrische“ Qualitäten. Es kann auch als Achtsamkeitsmeditation verstanden werden, insbesondere in modernen Interpretationen.
Fazit
Das Jesusgebet ist eine überaus wirkungsvolle spirituelle Praxis, die weit über das bewusste Sprechen von Worten hinausgeht. Durch seine tiefe Verankerung in der Tradition und seine Anpassungsfähigkeit an moderne Bedürfnisse bietet es einen Weg zur Verinnerlichung und zur Transformation des Unterbewusstseins. Es fördert nicht nur die geistliche Entwicklung, sondern auch die körperliche und seelische Gesundheit, indem es innere Ruhe, Konzentration und sogar Kreativität stärkt. Wer sich auf diesen Weg einlässt, kann eine tiefe Verbindung zum Göttlichen erfahren und eine Quelle des Friedens in sich entdecken, die unabhängig von äußeren Umständen stets präsent ist.
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